Achtsamkeit macht Beziehungen stark

Die Entwicklung des Lebenstempos in den westlichen Industrieländern führt immer wieder dazu, dass mehrere Tätigkeiten gleichzeitig gemacht werden. Sei es die mediale Beschallung von früh morgens bis zum Einschlafen, der laufende Fernseher neben den Mahlzeiten oder das Telefonieren während dem Autofahren, alles erfordert Aufmerksamkeit. Da wir dafür nicht gebaut sind, bleibt irgend etwas auf der Strecke. In vielen Fällen leiden die Beziehungen untereinander.

Die Reizüberflutung fängt bereits bei den Kindern an. Besonders die Kinder ehrgeiziger Eltern werden von einem Programm zum anderen gehetzt. In unserer Gesellschaft haben wir verlernt, zu genießen und uns dem gegenwärtigen Moment auszusetzen, weil wir darauf getrimmt wurden, bereits das nächste und übernächste Event durchzudenken. Viele Menschen haben neben dem Arbeitstag eine durchgeplante Freizeit. Ein Satz, der unseren Alltag bestimmt, heißt: „Ich habe keine Zeit, ich muss noch so viel erledigen!“

Die Bremse ziehen

Kein Wunder, dass immer mehr Menschen mit diesem Lebenstempo früher oder später nicht mehr zurechtkommen. Manche steigen radikal aus ihrem Alltag aus und versuchen einen Neuanfang. Achtsamkeit kann eine Antwort auf diesen überfordernden Lebensstil sein. Der Begriff Achtsamkeit kommt ursprünglich aus dem Buddhismus als Element auf dem Weg zur Erkenntnis der Wahrheit. Vor einigen Jahrzehnten entdeckte die Psychotherapie und die Psychiatrie darin einen Ansatz, Klienten zu helfen, sich von negativen Gedanken zu distanzieren oder Gefühle angemessen wahrzunehmen. Achtsamkeit, wie wir sie ohne religiösen Überbau verstehen, kann man als eine absichtsvolle und nicht bewertende Ausrichtung auf den gegenwärtigen Moment bezeichnen. Das Gegenteil wäre Achtlosigkeit. Es ist auch das totale Gegenteil von Multitasking.

Im Alltag können wir normalerweise nur für kurze Momente achtsam sein. Unsere Reizüberflutung und der Arbeits- und Freizeitdruck werden uns schnell in einen Autopilot-Modus bringen, bei dem wir den gegenwärtigen Moment nicht mehr wahrnehmen. Achtsamkeit länger aufrecht zu erhalten kann nur durch regelmäßige Achtsamkeitsübungen erworben werden. Diese kann man sich nicht durch theoretisches Wissen aneignen, denn Achtsamkeit ist erfahrungsorientiert. Wenn wir ein Glas Wein nach Anleitung eines Sommeliers genießen, dann werden alle unsere Sinne dafür benötigt und in dieser Zeit können wir nicht am Telefon mit dem Tischler über die neue Wohnzimmereinrichtung verhandeln.

Bewusst im aktuellen Moment leben

Der Unterschied zwischen achtsamem und achtlosem Tun ist, dass wir uns beim achtsamen Tun in jedem Moment bewusst sind, was wir tun. Denken Sie an Ihre letzte Fahrt mit dem Auto. Wie oft haben Sie unbewusst gekuppelt und geschaltet und gebremst? Es funktioniert perfekt auf Autopilot. Wann haben Sie bemerkt, dass auf Ihrer Standardstrecke ein neues Verkehrszeichen steht? Wir können auf dem Weg zur Arbeit den nächsten Auftrag durchdenken oder unseren letzten Familienstreit analysieren und dazwischen telefonieren. Wir kommen am Ziel an, ohne dass wir einen Augenblick wirklich achtsam gewesen wären. Grundsätzlich ist es eine großartige Fähigkeit, dass wir mehrere Dinge gleichzeitig ausführen können. Die Gefahr des Lebens auf Autopilot ist aber, dass wir an den wesentlichen Dingen vorbeigehen und uns am Ende leer und ausgelaugt fühlen. Wir sind am Leben vorbeigegangen. Achtsamkeit bereichert das Leben und unsere Beziehungen. Sie gibt uns die Möglichkeit, die Wahrnehmung bewusst auf die Gegenwart zu richten. Das ist entspannend.

Achtsamkeit können wir im Alltag bei vielen Tätigkeiten üben, die wir sonst auf Autopilot erledigen. Beim Zähneputzen bewusst spüren wie die Zahnbürste über die Zähne gleitet. Fühlt es sich anders an, ob mit der Bürste waagrecht oder senkrecht gebürstet wird? Wie fühlt sich die Bürste auf der Zunge an? Welchen Geschmack hat die Zahnpaste? Achtsamkeit kann man bei allen manuellen Tätigkeiten trainieren. Die Tätigkeit wird mit einer hohen inneren Aufmerksamkeit und Wachheit verrichtet und nicht achtlos automatisiert, wie wir das häufig tun. Eine bekannte, einfache Achtsamkeitsübung ist die achtsame Wahrnehmung des eigenen Atems. Dabei nimmt man einfach nur aufmerksam wahr, wie man ein- und ausatmet und sich dabei der Körper bewegt, ohne den Atem verändern zu wollen. Nach einiger Zeit stellt sich eine tiefe Entspannung ein.

Achtsam Beziehungen stärken

Mit etwas Erfahrung in Achtsamkeit kann man Beziehungen damit enorm bereichern. Achtsamkeit, verbunden mit Wertschätzung eröffnet in einer Beziehung neue Ebenen für tiefgehende gemeinsame Gespräche. Ein Spaziergang zu zweit, bei dem man bewusst Achtsamkeit übt, wirkt nicht nur entspannend, sondern ermöglicht einen intensiven Erfahrungsaustausch über die jeweiligen Wahrnehmungen.

Helmut Malzner, Diplom Lebens- und Sozialberater, Supervisor, www.coachingteam.info

Dieser Artikel erschien in der Zeitschrift Ehe und Familien Bausteine Nr. 100. Sie können diese Zeitschrift kostenlos als pdf-Datei bekommen, wenn Sie sich beim Newsletter anmelden.

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